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Schwarzweißfoto einer Person, die mit einem Kinderwagen eine Häuserfront entlang geht

Oder Veränderungen der Erdgeschoss-Zone eines Viertels im Zuge der Fußball EM 2008

Im 18. Jahrhundert war das Stuwerviertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk Sumpfgebiet. 1776 öffnete Joseph II. den Wiener Prater als Vergnügungspark für die Öffentlichkeit, was in weiterer Folge zur Entwicklung des Stuwerviertels beitrug. Um 1890 wurde das Stuwerviertel eher inselhaft neu angelegt und galt seit Anfang an als stadtteilsoziologischer Problemfall. Im Sinne einer „praterkulturellen Kontinuität“ gilt es seit jeher als Rotlicht-Bezirk und Straßnstrich-Gebiet. Die gründerzeitliche Erdgeschosszone des Stuwerviertels, die neben zahlreichen Läden auch Sous-terrain Lokale aufweist ist bis auf einige funktionierende Kerne seit Jahren verwaist. Als Nachnutzung vieler Leerstände finden sich Bars , Animierlokale und Einzelarbeitsstätten von „Nachtarbeiterinnen“ mit niedrigschwelligem Zugang. Das infrastrukturelle Geschehen dieses Stadtteils wurde kontinuierlich durch ein Angebot von Körperarbeiterinnen ersetzt – neben den einschlägigen Lokalen bestimmt das mobile Freieraufkommen Atmosphäre und Rhythmus des Viertels. Auf Grund seiner Nähe zum Ernst – Happel – Stadion , einem der Hauptaustragungsorte der Fußball-EM 08 wurde im Zuge der Ausweitung des Sexarbeiterinnenangebotes mit einer Nachnutzung der leerstehenden Erdgeschosszone im Stuwerviertel zu Zwecken der Prostitution gerechnet. Würde bei der Vermietung der Erdgeschosszonen des Stuwerviertels an vermeintliche „Gastronomen“ die wahre Nutzungsabsicht zu erkennen sein ? Und wenn ja ,würden die Hauseigentümer des Viertels den Ansturm sexhungriger Fußballtouristen zur Grundlage eines einträglichen Geschäfts machen? Würde das Stuwerviertel, das normalerweise einem lokalen Klientel als Sex-Supermarkt dient und als Pick-up-Ort fungiert – ausgeweitet zum internationalen Sex-Drive–in ? Die funktionelle „Nutzungsveränderung“ im Stuwerviertel mit allen ihren Folgen sollte Thema des Projektes sein.
Alle atmosphärischen Veränderungen und eine sukzessive Bestandsaufnahme der leerstehenden Locations im Stuwerviertel im Zeitraum vor , während und nach den Spielen der EM 08 wurden sowohl fotodokumentarisch als auch unter Zuhilfenahme einer Spy-Camera und eines Ton-Aufnahmegerätes vorgenommen. Dabei wurden alle merkbaren „Verschiebungen“ im Viertel von uns festgehalten. An den Rändern des Viertels, dort wo sich die vorbeiziehenden Masse bewegte konnten die meisten Veränderungen festgestellt werden. Die erwartete „große Verwandlung“ der leerstehenden Geschäftslokale in „schnelle Etablissements“ für das männliche Publikum der Fußball EM 08 hat sich entgegen unseren Erwartungen jedoch nicht vollzogen. Ein Ansteigen der Prostitution im Stuwerviertel über das übliche Tagesgeschäft hinaus konnte nicht verzeichnet werden. Aufgrund der Inszenierung der EM 08 als familientauglicher Event ist der Ansturm an sexhungrigen Fußballtouristen ausgeblieben. Eine „Internationalisierung“ des heimischen Sex-Drive-In im Stuwerviertel hat nicht stattgefunden. In Filmhaften Bilderserien mit überlagerten Texten und Sounds erzählen wir von den Geschehnissen rund um die „Veränderung des Viertels“ durch die Fußball EM 08. Das Ergebnis unserer Studie wird in Form eines interaktiven Netz – Projektes präsentiert.

Die atmosphärischen Veränderungen im praternahen Stuwerviertel im Zuge der Fußball EM 08 sollten auf narrativ-bildhaftem Weg sichtbar gemacht und in Form einer interaktiven Website präsentiert werden. Das Medium Internet ermöglicht dem Betrachter die Inhalte der Studie auf „gewohnt alltägliche“ Art abzurufen und künstlerische Inhalte zu rezipieren. (Nebenbei kehrt sich die Perspektive der Betrachtung um – beispielsweise werden nun kreisende Voyeure selbst zum Objekt der Betrachtung). Im Zuge der Projektrecherche standen sowohl die Veränderung des Stuwerviertels im zweiten Wiener Gemeindebezirk im Zuge der EM Spiele im Vordergrund, aber auch der „bereits akzeptierte“ Status Quo des lokalen illegalen Straßenstriches mit all seinen Auswirkungen auf das Viertel.

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Karin Zeitlhuber & Sabine Maier

Karin Zeitlhuber, Architektin und Künstlerin, ca. sechs Jahre lang Bewohnerin des Stuwerviertels
deu.archinform.net/arch/20950.htm

Sabine Maier, Medienkünstlerin Mitbegründerin und Betreiberin des Machfeld Studios im Stuwerviertels
www.machfeld.net/