Wiener Stadtexpeditionen entlang der GPS-Matrix

Wien liegt 48° nördlich des Äquators und 16° östlich von Greenwich, dem so genannten Nullmeridian. Deshalb beginnen alle GPS-Koordinaten in Wien mit der Bezeichnung N 48° E 16°. Der Name des Projekts 4816 nimmt Bezug auf diese Tatsache. Im Fokus des Interesses sind die genauen Minutenschnittpunkte im Stadtgebiet von Wien. Der Punkt N 48° 11,000′ E 16° 19,000′ ist ein Beispiel für einen dieser 185 Kreuzungspunkte. Die Schnittpunkte sind auf der Nord-Süd-Achse etwa 1,9 km, auf der Ost-West-Achse ca. 1,25 km voneinander entfernt. Ziel bei 4816 ist es, diese Orte mit Hilfe eines GPS-Geräts aufzusuchen und fotografisch zu dokumentieren. Vier Fotos je Punkt – je eines pro Himmelsrichtung – sind für 4816 notwendig. Durch die Ansteuerung eines GPS-Minutenschnittpunktes begibt man sich auf eine Expedition durch Wien.

4816 wurde von Robert Eder mit der psychogeographischen Methode des Umherschweifens der Situationisten rund um Guy Debord (50er-Jahre, Paris) verglichen. Der Begriff der Psychogeographie bezeichnet die Erforschung der unmittelbaren Wirkung des geographischen Milieus auf das emotionale Verhalten der Individuen. Eine der Methoden war das Umherschweifen in der Stadt. Unter Umherschweifen bzw. dérive wird in diesem Zusammenhang eine experimentelle Verhaltensweise in der Stadt verstanden, das Durchqueren von verschiedenen städtischen Umgebungen. (Eder n. d.) Auch bei 4816 wird die Stadt mittels Expeditionen abseits der historisch gewachsenen Straßensysteme durchwandert. Der Prozess des Findens der Punkte durch Teilnehmende ist dabei wesentlicher wie das Produkt, Feldforschung steht im Mittelpunkt. Die Situationisten gehen so weit, zu sagen: „Alles, was unsere Wahrnehmung der Straßen verändert, ist wichtiger als das, was unsere Wahrnehmung der Malerei verändert.“ (Ohrt 1995: 43)

Erik Meinharter hingegen betitelt einen Artikel über 4816 in der Zeitschrift für Stadtforschung dérive mit „Stichprobe Stadt“. Er vergleicht dabei die 4816-Methode der Stadterkundung mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen, bei denen Stichproben der Vegetation genommen werden. (Meinharter 2007)

Wien wird zum Expeditionsziel, zum Vermessungsgegenstand, zum Spielplatz und zur abstrakten Matrix. Verknüpfungen zwischen den Punkten sind gerade Linien abseits der herkömmlichen Wege und Straßen. Eine systematische und konzeptuelle Auseinandersetzung mit dem Stadtgebiet von Wien wird durch die nüchterne Registrierungs- und Umsetzungsstrategie angeregt. „Wer in der Projektdatenbank blättert, spürt die eigentümliche Faszination, die von einer solchen Art der „mechanischen“ Annäherung an das Weichbild der guten alten Wienerstadt ausgeht.“ (Möchel 2007)

Die gewonnenen Stichproben zeigen Bilder, die abseits des engen Kanons der dominanten Blicke bzw. der Stereotype auf Wien stehen und neben offensiv kommunizierten Symbolbildern eine andere Wirklichkeit zeigen, eine Wirklichkeit der Zwischenräume. Neil Freeman, der ein vergleichbares Projekt in Chicago durchführte, meint nach der Durchsicht der 4816-Fotos: „I didn’t recognize any of vienna.“ (Freeman 2007)

Mittlerweile wurden bereits 90 Prozent der Minutenschnittpunkte von über 70 Teilnehmenden gefunden. Unter den noch fehlenden Punkten gibt es unter anderem einen im Park des Schloss Laudons oder einen auf dem Gelände der E-Werke in Simmering. Punkte können jedoch auch mehrmals angelegt werden. Jede:r ist zum Mitmachen eingeladen.

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Evamaria Trischak

Evamaria Trischak (1972), Künstlerin und Informatikerin, lebt und arbeitet in Wien.

1995–2002: Studium in Wien, London und Berlin. (Visuelle Mediengestaltung, Informatik, Cultural Studies)
2000: Marianne von Willemer-Ehrenpreis auf dem Gebiet Literatur im Internet für linux in letzter minute
2001–2002: mego.racing.at: Entwicklung eines Video-Funksystems für den Motorsport, Kartreifen-ASCII-Videoinstallation. 2004: Marianne von Willemer-Ehrenpreis im Bereich Medienkunst
2006: offizieller Start von 4816
2007: artmart/Künstlerhaus, net.culture.space, paraflows/CAT/MAK, resonance007-catalogue
2008: art and cartography, cartography and art, Kunsthalle Wien; WAVES – the art of the electromagnetic society, HMKV Dortmund; Where do you walk today?, Konferenz Dortmund